Liebe Schwestern und Brüder,
liebe Freundinnen und Freunde unserer Gemeinde,

Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

und keine Heimat haben in der Zeit.

Und das sind Wünsche: leise Dialoge

täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben: Bis aus einem Gestern

die einsamste von allen Stunden steigt,

die, anders lächelnd als die andern Schwestern,

dem Ewigen entgegenschweigt.

Rainer Maria Rilke (1909)

das Gedicht von Rainer Maria Rilke begleitet mich zwar schon seit vielen Jahren, aber gerade die erste ­Strophe kommt mir in den letzten Wochen immer wieder in den Sinn, vermutlich weil ich mich darin zur Zeit gut wiederfinden kann. „Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge und keine Heimat haben in der Zeit“.

Da ist die Sehnsucht nach Geborgenheit und Stabilität im Leben und die gegensätzliche Erfahrung von Unsicherheit und Umbruch in vielen meiner/unserer Lebensbereiche. Rilke verknüpft die scheinbaren Gegensätze zu einem eindrücklichen Bild: Der sehnsüchtige Mensch erfährt, dass er in diesem Leben immer auch unbehaust ist, „keine Heimat (hat) in der Zeit.“ Gleichzeitig richtet er sich aber im Gewoge, im Fluss des Lebens ein, „wohnen im Gewoge“. Ein paradoxer Gedanke: „Wohnen im Gewoge und keine Heimat in der Zeit.“

Ähnlich paradox klingt das, was über unseren Glauben im Hebräerbrief gesagt wird.

„Glaube ist: Feststehen in dem, was man erhofft. Überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht.“Hebr 11,1 Auch dies eine eigenartige Vorstellung: Feststehen tue ich ja in allen möglichen Dingen, aber sich in der Hoffnung, in einer Fiktion zu verankern? An anderer Stelle des Hebräerbriefes wird dieser Gedanke eingeführt, wenn davon gesprochen wird, dass wir (die Gläubigen) unsere „Zuflucht dazu genommen haben, die dargebotene Hoffnung zu ergreifen. In ihr haben wir einen sicheren und festen Anker der Seele, der hineinreicht in das Innere, hinter dem Vorhang“ Hebr 6,18f.

Hier geht es nicht um einen Verweis auf das Jenseits, sondern hier geht es um die Verankerung im Geheimnis Gottes im alltäglichen Leben. Der Vorhang, von dem hier die Rede ist, verweist auf den Tempel in Jerusalem, hinter ihm war das Allerheiligste, der Ort Gottes. Betreten durfte ihn nur der Hohepriester, und das auch nur einmal im Jahr.

Die Botschaft des Hebräerbriefes ist: Der Zugang zu Gott ist offen, ist schon jetzt möglich für jede und jeden. Mit Jesus Christus, der im Hebräerbrief dann als der Hohepriester bezeichnet wird, ist die Grenze zu Gott aufgebrochen.

Der Theologe Paul Michael Zulehner spricht einmal davon, dass der Mensch das Geheimnis Gottes bewohnt. Gott ist in der Sprache der Religion das Geheimnis schlechthin. Aber, so Zulehner, „Gott ist nicht Geheimnis, damit wir ihn begreifen (dann wäre er es nicht mehr), sondern damit wir in seinem Geheimnis darin aufgehoben, geborgen sind. Der Grundvorgang des Glaubens kann von da aus so beschrieben werden: Der Mensch in einer unheimlichen Welt weiß sich im Geheimnis Gottes daheim. Er ‚bewohnt‘ gleichsam das Geheimnis Gottes. Auf solche Weise entrinnt er der Unheimlichkeit und kann übergehen aus dem Bannkreis der Angst in den Umkreis felsenfesten Vertrauens. “

Glauben als Vertrauen, als Zuhause sein im Unbestimmten, als Ertragen auch des Ungewissen.

Das Geheimnis Gottes ­bewohnen! – Wenn ich es recht sehe, dann sind unsere Gebete, aber auch unsere liturgischen Feiern, die Feier der Sakramente, Ausdruck dieses Wohnens oder vielleicht auch nur der Versuch, das Geheimnis Gottes bewohnbar zu machen.

Ich wünsche uns, dass wir trotz der Erfahrung von Unbehaustheit und Unsicherheit in unserem Leben, die Hoffnung und das Vertrauen nicht verlieren, im Geheimnis Gottes geborgen und aufgehoben zu sein.

Ihr

Siegfried Thuringer, Pfr.

 

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