Der in der Synode 2022 vor dem Hintergrund des Antrags der Gemeinde Landau aufEinrichtung einer Namensfindungs-Kommission angestoßene Diskussionsprozess um dasSelbstverständnis der alt-katholischen Kirche hat nun zu einem so genannten Herdenbriefgeführt, der an alle Pfarrämter verschickt wurde und auch in Christen heute (Ausgabe 6 / 2024)dokumentiert ist. Er soll auf der nächsten Synode als Diskussionsgrundlage für den dafürvorgesehenen halben Synodentag zur Diskussion um unser Selbstverständnis dienen. Wir sehen und anerkennen, dass die Arbeitsgruppe, welche dieses Dokument geschrieben hat,sehr viel Zeit, Arbeit und Engagement in die Erarbeitung dieses Papiers investiert hat. Dies istaller Ehren wert, zumal dadurch ein Diskussionsprozess angestoßen wurde, der ohne dieses Papiermöglicherweise vor der Synode nicht initiiert worden wäre. Dennoch ist dieses Dokument – zumindest aus unserer Sicht – keine geeignete und ausreichendeGrundlage für eine Diskussion über das alt-katholische Selbstverständnis. So ist es uns beispielsweise vollkommen unverständlich, warum das eigentliche ema, welchessich letztlich erst in dem Unterpunkt „Wofür stehen wir?“ auf Seite 3 des Papiers findet, in relativwenigen Zeilen verhandelt wird, während historische Fragestellungen in den beiden Seiten davorvergleichsweise breiten Raum einnehmen. Dass im Rahmen dieser historischen Erörterungen dabei in Blick auf unser Selbstverständniszudem immer wieder auf die blutig verlaufene Französische Revolution Bezug genommen wird (1),statt beispielsweise auf die Philosophie der Aufklärung und deren herausragenden VertreterImmanuel Kant (2), empfinden wir als überaus unglücklich – zumal wir die alt-katholische Kirchenicht als eine „revolutionär“ motivierte Kirche betrachten, sondern als eine Kirche, welche sichnach Kräften bemüht, Jesus Christus und seiner Botschaft nachzufolgen. Allerdings ist auch der Rückgriff auf die Philosophie der Aufklärung u.E. nur insoweit statthaft,als sich die im 19. Jahrhundert entstandene alt-katholische Theologie aufklärerischer Methodenbediente, indem sie die Geschichtswissenschaft und deren Ergebnisse ernst nahm. Auch derBezug zur Philosophie der Aufklärung ist daher kein Selbstzweck. Sondern deren Instrumentarium wird lediglich als eine Hilfe betrachtet, das Evangelium Jesu Christi zeitgemäß, angemessen und vernünftig zur Sprache zu bringen, also Vernunft und Glaube ins Gesprächmiteinander zu bringen (3). Kurz: Wir sind Kirche des dreifaltigen Gottes nicht Kirche der Französischen Revolution. Unddie Kirche ist in sich kein Selbstzweck, sondern dazu da, das Evangelium Jesu Christi in Wortund Tat zu verkünden. Daher sind die Reformen, die es bei uns gegeben hat, zwar sicherlich auch durch den Zeitgeistanregt (4), aber sie sind letztlich immer vorrangig theologisch diskutiert und begründet, und nichtdarin, dass wir „modern“ sein wollen oder gar Werten der Französischen Revolution folgenwürden. Diese theologische Fundierung der Reformen in unserer Kirche unterscheidet unsgrundsätzlich von einer politischen und sozialen Bewegung oder Partei. Zudem sind wir der Ansicht, dass die Begründung des Selbstverständnisses in den Worten „AlsChrist*innen haben wir eine ‚Gute Nachricht‘ … gehört und geben diese Gute Nachricht gerne weiter:In den Augen Gottes ist jeder Mensch gewollt und geliebt. Dieser Botschaft dürfen wir Hand und Fußverleihen.“ sicherlich nicht falsch ist, aber letztlich doch etwas sehr kurz gegriffen, wenn nicht garallzu oberflächlich. Jesus Christus, auf den wir uns in der Nachfolge berufen, kommt in dem Abschnitt „Wofür stehen wir?“ bestenfalls mittelbar vor. Das Stichwort der Heilsoffenbarung Gottes, welche uns in Jesus Christus als dem Menschgewordenen Gottessohn nahegekommen ist, wird ebenfalls nicht angesprochen. Geschweige denn der Glaube daran, dass Gott in seinem Heiligen Geist noch immer unter uns wirkt. Ferner fehlen die zentrale Botschaft Jesu vom Anbruch des Reiches Gottes und Jesu beständiger Ruf zur Umkehr (vgl. Mt 3,2 par.) komplett. Auch den Bezug auf die grundlegend in § 1 unserer Synodal- und Gemeindeordnung (SGO) festgehaltenen Punkte, dass wir uns als eine autonome und katholische Ortskirche (Ortskirchen-Ekklesiologie) verstehen sowie auf das Verständnis unserer Kirche als eine Kirche, welche sichdarauf beruft, „an dem alten katholischen Glauben, wie er in der Heiligen Schrift, in denökumenischen Glaubensbekenntnissen und in den allgemein anerkannten dogmatischenEntscheidungen der ökumenischen Konzilien der ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausendsausgesprochen ist“ – die Tradition, aus der wir leben – wie auch die Leitung durch eine Bischöfinresp. einen Bischof „unter Mitwirkung und Mitentscheidung der Gemeinschaft der Ordinierten unddes ganzen Gottesvolkes.“ – die bischöflich-synodale Struktur unserer Kirche – können wirbestenfalls in Andeutungen finden. (5) Und gerade auch das Bekenntnis zur eigenen Fehlbarkeit, die als ein Grundmerkmal unsererKirche die ständige Reformbereitschaft und Reformfähigkeit derselben regelrecht herausfordert,und die durch die bischöflich-synodale Struktur ermöglicht wird, ist für uns ein grundlegend zunennender Punkt in Blick auf unser Selbstverständnis. Daneben vermissen wir eine Erörterung der Bedeutung der Einbindung der alt-katholischenKirche Deutschlands in die Utrechter Union der Alt-Katholischen Kirchen, in der dann auch dasThema der Autonomie sowie des Prinzips der Einheit in Vielfalt verdeutlicht werden könnte. Auch unser stetes Bestreben, immer enger werdende Beziehungen zu anderen Kirchenaufzunehmen, wie sie schon in den Bonner Unionskonferenzen 1874 und 1875 zum Ausdruckkamen, und sich in den Kirchengemeinschaften konkretisieren, die wir mittlerweile mitzahlreichen anderen Konfessionen eingegangen sind, wird nicht angesprochen. Wir betrachten diese in den fünf vorangehenden Abschnitten angesprochenen Punkte alswesentlich für die Beschreibung unseres Selbstverständnisses als alt-katholische Kirche. Wir fragen uns außerdem, wie eine Diskussion des Selbstverständnisses der alt-katholischenKirche grundsätzlich so geführt werden kann, dass Identität letztlich nicht durch Überbewertungeigener und Abwertung anderer konfessioneller Phänomene gewonnen wird. So sehen wir dieGefahr, dass möglicherweise vorschnell und zeitbedingt Festlegungen getroffen werden, ob etwastypisch alt-katholisch oder gerade nicht alt-katholisch sei; denn damit würde sich unsereOrtskirche selbst in eine geistige Verengung führen, statt das grundlegende Merkmal der Einheitin der Vielfalt zu stärken. Demgegenüber halten wir eine grundsätzliche Offenheit für die Fülleder katholischen Spielarten für unverzichtbar. Sowohl innerhalb der deutschen Kirche, aber auchin der Utrechter Union, in der Gemeinschaft mit anderen Kirchen sowie in der Ökumene. Nicht zuletzt erweckt der Herdenbrief nach unserem Empfinden den Eindruck einer altkatholischenKirche, die vor allem modern sein möchte. Allerdings wird gleichzeitig kein Maßstabdafür benannt, wann eine christliche Kirche sich dem Zeitgeist aufgrund ihres Glaubens auch inden Weg stellen muss. Zwar wird in den historischen Ausführungen kurz die Versuchung desNationalismus genannt6, aber dies alleine reicht nicht. Um auf der Synode und in der gesamten Kirche vernünftig über unser Selbstverständnis als altkatholischeKirche diskutieren zu können, benötigen wir eine fundierte und differenzierteGrundlage. Der so genannte Herdenbrief, der für sich in Anspruch nimmt, „Eckpunkte für einenGrundkonsens“(7) darzustellen, entspricht einer solchen Grundlage u.E. in keiner Weise. Wir bitten Bischof und Synodalvertretung, diese Stellungnahme der Geistlichen des DekanatsNord an alle Gemeinden und die Synodalen der Gemeinden als einen Beitrag zur Diskussionüber unser Selbstverständnis als alt-katholische Kirche weiterzuleiten. Fußnoten: (1) Ein Beispiel: „So bringen wir als christliche Gemeinden die Werte der Französischen Revolution mit der Revolution des Christentums zusammen.“ – Herdenbrief, Seite 3, zweiter Absatz, letzter Satz. (2) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude [wage es verständig zu sein]! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ – vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784, Band 12, S. 481–494 (3) Vgl. dazu z.B. Matthias Ring, Als moderner Mensch an Gott glauben, Chrismon (9) 2011 – „Glaube undModerne nicht als Widerspruch zu erleben, sondern miteinander zu versöhnen – dieser Anspruch steht auch an der Wiege des Alt-Katholizismus. … Ich glaube an Gott, aber im Sinne eines vernünftigen und aufgeklärten Christentums. Mit diesen sicherlich missverständlichen Begriffen meine ich ein Christentum, das die Erkenntnisse der Theologie, insbesondere der historischen Wissenschaft und Bibelwissenschaften der letzten 200 Jahre, zur Kenntnis nimmt und nicht in den Hörsälen der Universitäten ihr Dasein fristen lässt.“ – Sonderdruck, Katholisches Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland (2012) Seite 3f. (4) Ohne die Frauenbewegung hätte es die Diskussion um die Frauenordination beispielsweise so wohl nicht gegeben. (5) vgl. Herdenbrief, Seite 1, vierter Absatz, zweiter Satz. (6) vgl. Herdenbrief, Seite 2, letzter Absatz, letzter Satz. (7) vgl. Herdenbrief, Seite 1, dritter Absatz, vorletzter Satz. Zu den vier anderen Stellungnahmen: Bruno Hessel, Gemeinde St. Martin, Dortmund Dr. Bernd D. Blömeke, Berlin Anselm Bilgri Bayerische Dekanatskonferenz … und den Herdenbrief.